Hallo ihr Lieben,
für meine Entsendungsorganisation, die mit der HBM zusammen arbeitet, das ELM (Evangelisch-lutherisches Missionswerk) wurde ich gebeten, ein Erlebnis aus meinem Jahr hier zu beschreiben und ich dachte, es interessiert euch vielleicht.
Hier ist es:
Bericht fürs Erinnerungsheft – Sophie
Ich habe meinen Freiwilligendienst an der Blindenschule Yapentra in der Nähe von Nordsumatra, Medan verbracht. Inzwischen habe ich mich sehr an das Leben hier gewöhnt und es fiel mir schwer, ein besonderes Ereignis aus meinem Gedächtnis zu kramen.
Worüber kann man berichten, wenn das ganze Leben ein Jahr lang so voll von neuen Eindrücken war? Im Englischunterricht habe ich mit dem Lehrer und ehemaligen Schüler, Arjuna Perangin-angin darüber gesprochen.
„Do you have an idea what you will write about?“, fragt er.
Obwohl ich mich seit mehr als neun Monaten auf Indonesisch unterhalten kann, spreche ich bis heute mit Pak Arjuna nur Englisch und bin immer wieder fasziniert davon, wie gut er es kann.
Fast jede Woche versuche ich, beim Englischunterricht mitzuhelfen und wir üben Dialoge mit den Kindern.
Ich bin mir noch nicht sicher, was ich schreiben will, aber ich überlege kurz und meine Gedanken schweifen ab. Gerade heute Morgen um 5 habe ich ihm wieder eine SMS geschrieben: Do you want to go running?
Normalerweise bin ich inzwischen zu kaputt, um ihm zu schreiben, doch manchmal tu ich es und wenn er antwortet, nehm ich meine Taschenlampe und laufe zu seinem Haus. Er wohnt mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter Armel auf dem Gelände. Mit der Lampe und neben mir kann er ohne Probleme um das Gelände joggen, denn er hat noch ein Restsehvermögen und kann zum Beispiel Farben und Umrisse erkennen.
Wenn wir laufen reden wir über das Studieren, Feiertage, Technik, Politik und vieles mehr. Zum Teil sind seine Fragen so kompliziert, dass ich sie entweder nicht beantworten kann oder am nächsten Tag im Internet nachgucken muss.
Wenn wir die Kinder treffen, weil sie zum Essraum gehen, weiß ich, dass wir aufhören müssen und gehe schnell duschen, denn danach ist Morgenandacht und Frühstück.
Früher war ich öfters morgens laufen, doch das hat aufgehört, denn inzwischen mache ich oft nachmittags mit den Kindern Sport.
Und genau darüber könnte ich schreiben, denke ich und schlage es vor. Pak Arjuna klingt begeistert.
„Mach ein Foto, wenn du mit Heri laufen gehst und füg es in den Text ein“, sagt er. Ich bin dankbar für sein Interesse und fühle mich bestätigt, in der Annahme, dass dies wirklich ein Thema ist, über das man gut berichten kann.
Schon im November habe ich die jetzige Studentin Dean morgens mit zum Joggen genommen, da waren wir mit Pak Arjuna zu dritt. Sie ist komplett blind und seit sie in der Junior Highschool ist und ich habe mich darauf eingestellt langsamer zu laufen und bin unsicher. Was, wenn sie stolpert?
Sie kam auf mich zu und nahm meine Hand. Eine Sekunde später, wusste ich nicht mehr, wie mir geschah. Pak Arjuna und Dean lachen mich aus. Sie ist viel schneller als ich normalerweise laufe und zieht mich fast hinter sich her. Nach drei Runden (etwa 300 m) hat sie allerdings genug, doch nach ein paar Wochen hat sie sich schon auf fünf gesteigert.
Leider ist Ende November ein Unfall passiert, der dazu betrug, dass kein Schüler mehr morgens mit mir laufen wollte. Nur Pak Arjuna blieb motiviert, allerdings war Regenzeit und er hatte oft keine Lust, da das Gelände oft überschwemmt war. So kam es, dass ich erst im April wieder so richtig anfing, mit Dean laufen zu gehen, diesmal nachmittags.
Jede Woche ungefähr dreimal haben wir es geschafft und uns von anfangs sechs auf einen Rekord von zwanzig Runden (30 min) gesteigert. Nach jedem Laufen haben wir uns vor mein Haus gesetzt, Multivitamintabletten aus einem Paket von meiner Oma getrunken und uns unterhalten.
Einige Leute beobachteten uns ungläubig. Laufen bei der Hitze? „Wie viele Runden?“, fragt Frau Simorangkir manchmal, die mal Deutsch studiert hat und mich ein bisschen versteht, auch wenn sie sagt, dass Marcus deutlicher spricht. Ich antworte ihr stolz und übersetzte es für Dean.
Einmal war sie schon ganz schön aus der Puste, weil wir lange nicht laufen waren, da frage ich: „Gehts noch?“. Sie sagt nur: „Wir essen beide Reis, oder?“ Ich muss fast lächeln. So einen Vergleich kann man auch nur in Indonesien bringen. „Was du kannst, kann auch ich.“
Einige Wochen danach begleitete ich Dean bei ihren Abschlussprüfungen, durch die sie sich trotz Schwierigkeiten (Tippfehler in der Brailleversion aus Jakarta und Grafiken, mit denen sie nie gearbeitet hat usw.) an einer öffentlichen Schule als einzige Blinde in der Klasse durchkämpfte und inzwischen Sozialkunde an der Universität in Medan studiert.
Mit ihr habe ich Momente erlebt, die mich so tief beeindruckt haben, dass ich es irgendwie am ganzen Körper gespürt hab. Sie ist so mutig, so ehrgeizig und optimistisch, dass es mir manchmal wie in einer Geschichte vorkam, die man anderen erzählt, um sie zu motivieren.
„Dean ist weise“, sagt die Küchenfrau Ibu Eri, die schon seit über 20 Jahren an der Schule arbeitet und viele Schüler kennen gelernt hat und sie heranwachsen gesehen hat.
Als Dean zu beschäftigt war habe ich quasi durch Zufall von zwei weiteren Schülern gehört, die gerne Sport machen. Die meisten sind Laufen eher abgeneigt und viele Jungs spielen lieber Fußball (der Ball enthält Steine und macht damit Geräusche) oder machen Musik und die meisten Mädchen haben auch keine Lust auf Sport.
Aber Marialam und Heri erwiesen sich als Deans Nachfolger. Manchmal lief ich mit beiden an der Hand und dann haben sie angefangen sich zu ärgern und aus Spaß um mich herumzulangen, um dem jeweils anderen einen Klaps zu verpassen. Dabei manövrierte ich sie um parkende Wagen, andere Schüler und spielende Kinder auf dem Gelände. Das Chaos war manchmal unglaublich, aber lustig und man wächst ja bekanntlich mit seinen Aufgaben.
Oft erzählen wir uns Geschichten. In der Woche, bevor ich eine Freundin in Jakarta besucht habe, erzählte ich den beiden davon und einen Augenblick scherzten wir und träumten davon, eine Wohnung in Jakarta zu besitzen. Mit Swimmingpool auf dem Dach, sage ich. Und Klimaanlage, ruft Heri begeistert. Im 20. Stock. Werd erstmal reich als Ärztin in Deutschland, dann machen wir das, sagt Marialam. Alle grinsen. Schöner Gedanke.
Wenn Marialam krank war oder keine Lust hatte, bin ich mit Heri alleine gelaufen. Er ist nicht von Geburt an blind und es stört ihn, dass er auf einmal so eingeschränkt ist. Bis vor einem Jahr konnte er noch einiges erkennen, doch inzwischen sieht er gar nichts mehr, bis auf gröbste Umrisse und Farben. „Früher bin ich Motorroller gefahren, nur auf dem Hinterrad“, sagt er stolz. Ich muss schlucken. Er ist neulich sechzehn geworden.
Auf einmal lässt er meine Hand los und kontrolliert nur ab und zu, ob er noch neben mir läuft. Dann rennt er vor. Ich kommandiere „rechts“, „links“, „abbiegen“, komme kaum aus dem Staunen wieder heraus. Wir scherzen: „Ich bin die Fernbedienung.“
Am nächsten Tag kommt er und ruft mich. Wir fangen an, er rast los, viel zu schnell.
„Links, Heri!“, schreie ich, aber zu spät. Er fliegt kopfüber in die Regenrinne am Straßenrand. Mir wird heiß und kalt vor Schreck. Ob er bewusstlos wird? Er steht auf. Ich entschuldige mich tausendmal. „Macht nichts, ich wollte das“, sagt er grinsend. Ist sein Kopf aus Stein?
„Ich bin schon einmal vom Baum gefallen und auf einem Ast gelandet“, sagt er und ich zucke schon bei dem Gedanken zusammen. Wir laufen weiter, er fällt nochmal und dann machen wir Pause.
Abends klagt er dann doch ein bisschen über aufgeschlagene Knie, aber Marcus lobt ihn: „Du warst richtig mutig.“ Er tut so, als wäre es etwas ganz Normales, grinst aber stolz.
Ich habe ein schlechtes Gewissen und heute laufen wir wieder Hand in Hand. Aber er ist immernoch stolz, dass er es probiert hat und es war ich, die es nicht mehr wollte, weil es einfach zu gefährlich ist.
Heri ist Provinzsieger im Schwimmwettbewerb der Sonderschulen und gestern waren wir das dritte mal im Freibad. Ich schwimme vor ihm und rufe oder klatsche, damit er gerade schwimmt und der Sportlehrer zeigt im Technik und Startsprung.
Einmal hatte ich mich gerade fertig umgezogen, da ruft er „Guck mal, Miss!“ und springt mit einem Rückwärtssalto ins Becken, das ungefähr 1,25 Meter tief ist, taucht auf und grinst.
Ich würde gern ein Foto einfügen, doch dafür ist kein Platz mehr und meine Sportgeschichten sind längst nicht zuende, merke ich gerade, aber das soll es erst einmal gewesen sein.
Ist das eine besondere Erinnerung? Nein, es sind Tausende und ich werde sie nie vergessen, ebensowenig wie die Menschen, die damit in Verbindung stehen.